Keine Delikatesse der Welt ist von so starken Gefühlen begleitet wie Erdäpfel. Erdäpfel sind der Inbegriff sanften, sättigenden Wohlbehagens. So ein kleiner, frisch gedämpfter Erdapfel. Es genügen eigentlich nur Salz und ein bisschen Butter, um aus ihm einen unübertrefflich einfachen Genuss des Lebens zu zaubern. Und es gibt Tage, da hat ein molliges, muskatduftendes Erdäpfelpüree die Wirkung einer schützenden, federleichten Daunendecke, die Seelenfrust und Alltagskälte erfolgreich von uns abhält. Die gleiche Wirkung hat auch eine Erdäpfelrahmsuppe, die mild Magen und Seele tapeziert und sehr, sehr friedlich stimmt. Erdäpfel – das ist die zärtliche, liebevolle ostösterreichische Bezeichnung für Kartoffel. Kartoffel entstand aus Tartuffel – Trüffel. Und damit haben Erdäpfel, außer dem Wurzelgrund, wirklich nichts zu tun. Erdapfel, Pomme de terre – das ist viel ehrlicher und selbstbewusster.
In Südamerika gehörte der Erdapfel schon seit mehr als 2.000 Jahren zum kulinarischen Alltag. Christoph Columbus verdanken wir, dass er uns Mitte des 16. Jahrhunderts das „Gold der Inkas“ nach Europa mitbrachte. Mit der Knolle wollte sich niemand anfreunden, in Zeiten des Hungers waren Erdäpfel oft die einzige, nicht wirklich geliebte Nahrung. Keiner hatte weder die Zutaten noch die Lust, aus den Erdäpfeln etwas zu machen, das auch den Gaumen befriedigte. Es bedurfte liebevoller Behandlung, um sie höchst erstrebenswert zu machen. Und ihnen vielleicht sogar erotisches Flair zu verleihen, wie das „Bratkartoffel-Verhältnis“ zwischen ausgehungerten Soldaten und Kriegsbräuten mit bescheidenen Vorräten bewies.
Friedrich II. befahl während des Dreißigjährigen Kriegs den Anbau und drohte, Widerspenstigen sogar Ohren und Nase abzuschneiden, doch das verstärkte die Ablehnung des Armeleuteessens nur noch. Viel klüger stellte es der französische Apotheker Parmentier an, der aus Erdäpfeln eine schmackhafte Erdäpfel-Lauch-Suppe braute, die heute noch seinen Namen trägt. Zur gleichen Zeit übersandte der ausgefuchste Werbestratege Blüten und Knollen der Pflanze an Ludwig XVI., der sich nicht nur die Suppe servieren ließ, sondern während eines Hofballs das Dekolleté seiner Gemahlin Marie Antoinette mit den dekorativen Erdäpfelblüten schmückte – mit dem Ergebnis, dass eine regelrechte Erdäpfelmanie ausbrach und die Suppe Parmentier populär wurde. Bald nahmen sich die Köche der Adelshäuser der begehrten Knolle an, und das war der Anfang des steilen Aufstiegs eines verachteten Produkts. Das beweist wieder einmal, dass man mit List und Liebe mehr erreicht als mit Predigten und Befehlen. Bei Erdäpfeln – und überhaupt.
Das Armeleuteessen, das vielen Menschen in den letzten Jahrhunderten geholfen hat, Hungersnöte zu überleben, geriet immer mehr in Misskredit. In der Nachkriegszeit hatte man genug von den Erdäpfeln und wandte sich anderen Lebensmitteln zu. Man lernte andere Länder und Essgewohnheiten kennen, die Erdäpfel kamen aus der Mode. Dass sie als „Dickmacher“ galten, untergrub zusätzlich ihre Reputation. Dass Erdäpfelgerichte heute wieder ein ganz anderes Renommee haben, lässt sich an den feinen Varianten ablesen, die von Spitzenköchen serviert werden: Alain Weissgerber vom Restaurant Taubenkobel serviert als Gruß aus der Küche Heurige in Ton gebacken. Oder man denke an die in Heu gebackenen Erdäpfel von Ana Roš, die sie mit Liebstöckelbutter und Pilzfond serviert. Oder das Signature Dish von Josef Steffner im Mesnerhaus: Erdäpfelstampf mit Dottercreme und Kaviar. Und nicht zu vergessen das legendäre Kaviar-Ei von Lisl Wagner-Bacher. Ein paniertes, gebackenes Ei, mit Kaviar gekrönt. Und damit es nicht umfällt, thront es auf einem Ring aus sensationell gutem Erdäpfelpüree. Eine augenzwinkernde Spielerei betrieb einst Christian Petz: Er legte zwischen zwei hauchdünne Erdäpfelscheiben ein Petersilienblatt und buk es in Fett aus.
Kein Erdapfel gleicht dem anderen. „Zwischen 50 und 60 Erdäpfelsorten sind derzeit in Österreich zugelassen. Aber nur acht bis zehn Sorten erreichen die Konsumenten über die großen Handelsketten“, weiß Michael Bauer, Landwirt aus Leidenschaft. Ein Kriterium ist nämlich, wie gut sich die Ware im Regal präsentiert. Eine Sorte kann geschmacklich sehr gut sein, aber wenn sie sich nicht lagern lässt, wird sie sich nicht durchsetzen. „Wir bauen in unserem kleinen Betrieb nur drei Sorten an. Die festkochenden Sorten Annabelle und Valdivia sowie die mehligkochende Sorte Agria.“ Bauers Familienbetrieb ist nicht nur Hoflieferant der heimischen Spitzenrestaurants, sondern auch die Quelle so mancher Gemüsetrends des letzten Vierteljahrhunderts. Waltraud und Michael Bauer haben schon 45 Tomatensorten gezogen, als Paradeiserraritäten im Supermarkt noch undenkbar waren, und schafften sich mit ihren Raritäten ein Standbein abseits der industriellen Produktion.
„Es gibt kaum ein Gemüse, das so vielseitig verwendbar und das ganze Jahr über verfügbar ist und gleichzeitig eine sehr gesunde und beliebte Sättigungsbeilage darstellt“, meint Silvio Nickol vom Gourmetrestaurant im Palais Coburg und fährt fort: „Ob salzig oder süß zubereitet, man kann sie kochen, braten, soufflieren, gratinieren, zu Suppen, Schmarren, Aufläufen, Salat, Saucen, Gnocchi, Pasteten, Knödel, Gulasch usw. verarbeiten.“
Faszinierend, wie leicht sie immer neue Aromen annehmen und doch ihren charakteristischen Geschmack bewahren. Die Zubereitung braucht viel Zeit, Erdäpfel sind eine hochsensible Delikatesse. Wenn man all ihre Eigenschaften zur Geltung bringen möchte, sind sie sehr arbeitsintensiv. „Das beginnt beim Einkauf, bei der richtigen Wahl der Erdäpfelsorte, bei der Lagerung, beim Wissen um ihre Kälteempfindlichkeit, bei der Vorbereitung für die entsprechenden Gerichte. Man muss sie waschen und in den meisten Fällen – gekocht oder ungekocht – schälen. Bei Knödeln und Kroketten muss ein Teig hergestellt werden, der baldigst verarbeitet werden muss. Bleibt er stehen, wird er wässrig und grau“, weiß Nickol und fährt fort: „Mit Erdäpfeln verbinde ich auch sehr viele Kindheitserinnerungen, ein kleiner herzförmiger Erdapfel, frisch gedämpft, gerade geschält – als Kind habe ich ihn in der Küche von meiner Großmutter bekommen und ein Gefühl von Geborgenheit erlebt.“
Erdäpfel unterscheiden sich nicht nur durch ihre Form, Farbe, ihren Geschmack und den Reifezeitpunkt, sondern auch durch unterschiedliche Kocheigenschaften. Festkochende Sorten werden in der österreichischen Küche auch als „speckig“ bezeichnet. Sie behalten beim Kochen ihre feste Struktur, bleiben angenehm feucht, feinkörnig, lassen sich gut in Scheiben schneiden und sind daher besonders für die Zubereitung von Salaten, Braterdäpfeln und Aufläufen geeignet. Ditta, Annabelle, Sigma, Evita, Kipfler – eine besonders alte Sorte, mit der sich wunderbare, köstliche Salate zubereiten lassen. Vorwiegend festkochende Sorten haben eine mittelfeste bis leicht mehlige Konsistenz. Zu verwenden sind sie wie festkochende Sorten. Ein typischer Vertreter ist Bintje. Mehligkochende Sorten, umgangssprachlich als „mehlige“ Erdäpfel bezeichnet, die meist größeren Knollen besitzen eine runde bzw. ovale Form. Sie können beim Kochen ein wenig aufspringen bzw. leichter zerfallen als speckige, bleiben angenehm feucht bis trocken und werden wegen ihres hohen Stärkegehalts für die Zubereitung von Suppen, Teigen, Puffer, Pürees und Pommes frites verwendet: Hermes, Laura (charakteristisch die intensiv rot gefärbte Schale), Agria. —
Kindheitserinnerung
Erdäpfel mit Topfen
Rezept von Silvio Nickol,
Palais Coburg, Wien
Zutaten für 4 Personen
Erdäpfel
400 g festkochende Erdäpfel,
geschält und geviertelt
30 g Butter
1 Knoblauchzehe, angedrückt
1 Lorbeerblatt
Muskat
Salz
Topfen
80 g Topfen (40 % Fett)
120 g Crème fraîche (im Idealfall
von Bordier)
etwas Salz
Zusätzlich
20 ml Arganöl
10 g Schnittlauchröllchen, möglichst fein geschnitten
Schnittlauch- oder Knoblauchblüten
60 g Kaviar (bevorzugt Baerri Caviar N25)
Zubereitung
Erdäpfel: Die Erdäpfel in mit Knoblauch und Lorbeerblatt versetztem Salzwasser weich kochen. Erdäpfel abseihen, gut abtropfen lassen, auf ein Blech geben und im vorgeheizten Rohr bei 100 °C Umluft ausdampfen lassen. Erdäpfel mit Butter und frisch geriebener Muskatnuss „marinieren“ und in einer Metallschüssel über Wasserdampf warm stellen.
Topfen: Topfen mit Crème fraîche vermengen, salzen und in eine Spritzflasche füllen.
Fertigstellen: Die Erdäpfel durch eine Erdäpfelpresse in einen auf dem Teller liegenden Ring pressen und etwas andrücken. Den Topfen netzartig über die Erdäpfel spritzen, etwas Arganöl darüberträufeln, den Schnittlauch darüberstreuen und dessen Blüten dekorativ daraufgeben.
Aus dem Kaviar 15-g-Nocken stechen und daraufsetzen. Warm servieren.
ADRESSEN
Silvio Nickol Gourmet Restaurant
Coburgbastei 4, 1010 Wien
palais-coburg.com
Gemüsemanufaktur Bauer
Schulgasse 4B, 2100 Stetten
gemuese-bauer.at
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